Das Rätsel von Tunguska
Spurensuche in der Taiga
Von Dagmar Röhrlich
Das Einzige, was wir heute mit Sicherheit wissen, sind
die Auswirkungen dieses Ereignisses auf den Wald von
Tunguska. Aufgrund dieser Auswirkungen g l a u b e n wir,
dass ein kosmischer Körper in großer Höhe
explodiert ist, weil niemand je einen Krater oder auch nur
irgendein Bruchstück gefunden hat.
30. Juni
1908. 7.15 Uhr. Über Irkutsk wölbt sich ein
wolkenloser Morgenhimmel. Plötzlich schießt eine
Feuerkugel flach über die Stadt hinweg. Knallend und
knatternd verschwindet sie nach Nordwesten. Sie fliegt
über die Taiga, bis sie Vanovara erreicht, eine kleine
Handelsstation an dem Fluss Podkamennaya Tunguska, die
"Steinige Tunguska". Dort dreht die Kugel plötzlich
nach Norden
7 Uhr 16. Ein greller Blitz spaltet den
Himmel. Feuersäulen steigen auf. Der Boden bebt.
Donnerschlag folgt auf Donnerschlag. Ein Sturm tobt los. In
Vanovara bersten die Fenster, Menschen werden zu Boden
geschleudert, ein Hitzeschwall fegt über das Land. Der
Orkan reißt die Zelte der Ewenken fort. Hirtenhunde
und Rentiere verbrennen zu Asche. In einem Gebiet, so
groß wie das Saarland, werden 80 Millionen Bäume
entwurzelt, entastet, geknickt.
Die Explosion von Tunguska setzt die Energie von 1000
Hiroshima-Bomben frei. Ursache: unbekannt. Deshalb sind seit
1928 rund 40 Expeditionen auf Spurensuche gegangen.
Die
gängige Hypothese ist, dass ein kosmischer
"Eindringling" hoch oben in der Atmosphäre explodiert
ist. Es soll ein 60 Meter großer Asteroid gewesen
sein, der in acht Kilometern Höhe zerstäubte. Oder
war es vielmehr ein 80 Meter großer Komet, der in 40
Kilometern Höhe verdampfte? Jetzt ist noch eine weitere
Überlegung in die Debatte geworfen worden. Denn unter
Tunguska liegt eine gewaltige Erdgaslagerstätte. Hat
sie etwas mit dem mysteriösen Geschehen zu tun?
Ein
alter, russischer Dokumentarfilm erzählt:
Eine
Notiz auf einem alten, russischen Kalenderblatt vom 2. Juli
1921, erzählt vom Einschlag eines Meteoriten im Jahr
1908.
Die Notiz erregt die Aufmerksamkeit des
sowjetischen Wissenschaftlers Leonid Kulik, der ein
Spezialist für die Erforschung von Meteoriten ist.
Obwohl die Ressourcen für die Meteoritenforschung in
der jungen Sowjetunion naturgemäß begrenzt sind,
verlässt die erste russische Meteoriten-Expedition
unter Kuliks Führung im Herbst 1921 Petrograd in
Richtung Sibirien.
In vielen sibirischen Städten
hört Kulik Berichte über das ungewöhnliche
Phänomen, das sich am 30. Juni 1908 ereignet hat. Ein
Phänomen, das Tausende Menschen überall im
riesigen Sibirien beobachtet haben. Augenzeugen berichten
von einem blendendem Lichtblitz über der Taiga und von
einer gewaltigen Explosion. Anzeichen für ein
höchst ungewöhnliches kosmisches Ereignis.
Kulik hält das Gebiet an der Steinigen Tunguska
für den wahrscheinlichen Einschlagsort des
Meteoriten.
Bis Ende des 20. Jahrhunderts dank
Gorbatschows Perestroika erstmals ausländische
Wissenschaftler Tunguska besuchen durften, war die
Erforschung des Phänomens eine rein sowjetische
Angelegenheit. Zu nah waren Gorbatschows Vorgängern die
geheimen Städte der Rüstungsindustrie, als dass
man Fremde dort geduldet hätte. Seit den 90er Jahren
nun pilgern westliche Forscher zu dem entlegenen Ort, um zu
ergründen, was da eigentlich am Morgen des 30. Juni
1908 passiert ist.
Wenn es um den Nachweis von
Asteroiden- oder Kometeneinschlägen geht, greifen die
Forscher gerne auf das Element Iridium zurück. Denn
verglichen mit den Steinen an der Erdoberfläche, haben
Meteoriten einen höheren Iridium-Gehalt. Findet man
Iridium in hoher Konzentration, gilt das als sicherer Beweis
für kosmisches Material. Was liegt also näher, als
in Tunguska danach zu suchen? In dem großen See etwa,
acht Kilometer vom Epizentrum der Explosion entfernt.
Giuseppe Longo von der Universität Bologna:
Wenn
wir eine sehr starke Erhöhung des Iridiumgehaltes
finden, wäre das ein endgültiger Beweis. Wenn wir
sie finden. Aber wir haben sie nicht gefunden. Ich kann
jedoch vorwegnehmen, dass es scheint, als seien die
Iridiumgehalte erhöht. Unsere Untersuchungen sind nicht
abgeschlossen. Wir können noch keine Schlüsse
ziehen, es ist nur ein Gefühl, dass wir nach einigen
Proben haben, und wir müssen noch viele andere
untersuchen.
Nicht erhöht oder doch
erhöht? Dass es den Wissenschaftlern so schwer
fällt, klare Antworten zu geben, liegt an Tunguska
selbst: Dort ist die Aussagekraft geochemischer Analysen
begrenzt. Romano Serra von der Universität Bologna:
Wenn man Tunguska verstehen will, steht man vor dem
grundlegenden Problem, dass alle Daten unter dem Aspekt
gesehen werden müssen, dass es sich bei der Gegend dort
um einen uralten Vulkan handelt. Alle Gesteine stammen von
einem Vulkan.
Und zu allem Überfluss auch noch
von einem besonderen. Unter Tunguska hat sich vor
Jahrmillionen ultraheißes Material aus Tausenden von
Kilometern Tiefe von der Grenze zum Erdkern wie ein
Schneidbrenner bis hinauf an die Oberfläche
durchgefressen. Auf der Erde floss eine anderthalb Kilometer
mächtige Basaltdecke aus. Diese Basalte enthalten
ungewöhnlich viel von Elementen, die man sonst eher mit
Meteoriten verbindet, unter anderem auch Iridium. Wenn man
also in Tunguska anomal viel Iridium findet, kann es aus dem
Boden stammen und deshalb angereichert worden sein, weil bei
einer Explosion Unmassen an Bodenpartikeln hochgewirbelt
worden sind. Oder es kommt aus dem All.
In der Sprache
der Ewenken heißt Donner "Agdy" - und Agdy steht auch
für den Donnergott und seine eisernen Vögel, die
bei Gewitter zur Erde fliegen. Wenn sie mit den Flügeln
schlagen, grollt Donner über das Land und aus ihren
Augen schießen die Blitze. Um 1900 lebten an den Ufern
der Steinigen Tunguska die Shanyagir und die Ilimpiya. Sie
waren tief verfeindet. Eines Tages rief der mächtige
Schamane Magankan Agdy an: Der Gott möge die verhassten
Shanyagir töten. Am frühen Morgen des 30. Juni
1908 erhörte Agdy ihn, und er schickte eine Legion
seiner Donnervögel. Sie entfachten ein Inferno. Zelte
wurden höher hinaufgerissen als die höchsten
Baumwipfel. Das Feuer verletzte die Menschen, verbrannte die
Tiere zu Asche, die der Sturm davon fegte. Der Donner riss
die Erde auf. Die Menschen waren entsetzt, als sie
erkannten, was sie mit ihrem Hass angerichtet hatten und
flohen voller Panik - und Agdy übernahm die Herrschaft
über Tunguska.
Am 30. Juni 1908, um 7:16 Uhr
Ortszeit, zeichnete der Seismometer in Irkutsk die Wellen
eines Erdbebens auf. 48 Minuten später gab es einen
weiteren Ausschlag: die Luftdruckwelle, die rund um die Welt
gelaufen war. Diese Druckwelle soll - den von
Forschergeneration zu Forschergeneration weitergegebenen
wissenschaftlichen Berichten zufolge - auch an anderen
Atmosphären-Messstationen wie der in Potsdam
registriert worden sein. Allerdings ist davon in Potsdam
nichts - oder nichts mehr - bekannt. In den Archiven gibt es
keine Aufzeichnungen über das Geschehen an jenem
Sommertag des Jahres 1908. Gleiches gilt auch für die
Erdbebenwellen, die der Überlieferung zufolge an
verschiedenen Stationen aufgezeichnet worden sein sollen.
Weder in den Archiven von Potsdam findet man sie, noch in
denen von Uppsala, wo damals die empfindlichste Station
stand.
Nicht nur der uralte Vulkan unter Tunguska
beeinträchtigt die Arbeit der Forscher, sondern auch
die Legendenbildung: Fiktion vermischt sich mit Fakten.
Der Handelsplatz Vanovara ist der Ausgangspunkt für
Leonid Kuliks Expedition 1928.
Der sibirische
Handelsposten ist von herausragender ökonomischer und
kultureller Bedeutung für die Bewohner dieser
entlegenen Region.
Kulik entscheidet, die Expedition
durch die Flüsse stromaufwärts zu führen, um
in die entlegene Taiga einzudringen, wo er hofft, den
Meteoriten von Tunguska zu finden.
16 Tage lang
kämpfen die Männer mit der Strömung und dem
Dickicht, wohlwissend, dass sie mit jedem Tag ihrem Ziel
näher und näher kommen. Dann haben sie es
erreicht: Tunguska.
Millionen von Bäumen liegen
entwurzelt in einem riesigen Kreis. Noch 20 Jahre nach dem
Ereignis markieren sie die Stelle, wo es passiert war. Der
Meteorit muss im Zentrum dieses Kreises niedergegangen sein,
in einem Gebiet mit großen Sümpfen.
Kulik
glaubt, dass die Vertiefungen im Morast die Krater sind, die
durch die Einschläge des Meteoriten entstanden sind.
Jetzt setzt er all' seine Energie daran,
Meteoritenbruchstücke zu finden und zu bergen. Kuliks
Leute versuchen, einen der Krater trockenzulegen. An anderen
Stellen beginnen sie mit Ausgrabungen.
Aber die
erwarteten Teile eines Meteoriten finden sie nicht.
Inzwischen suchen Forscher seit mehr als 70 Jahren nach
Beweisen für die Einschlagshypothese. Damals im Boden,
nach großen Bruchstücken. Heute nach
mikroskopischen Stäubchen in Torfmoosen und im Harz
überlebender Bäume.
Physiker der
Universität Bologna haben Bäume gefällt, sie
zählten die Baumringe und nahmen sich dann die aus dem
Jahr 1908 vor. Mit Elektronenmikroskop und
Röntgenstrahlen untersuchten sie das Harz, das damals
im Holz eingeschlossen worden ist. Sie fahndeten nach nur
tausendstel Millimeter winzigen Partikeln, die seinerzeit
daran hängen geblieben sind. Waren diese Partikel 1908
anders als in den Jahren zuvor oder danach? Tatsächlich
war erheblich mehr Staub eingelagert als normal.
Wir
haben Mikropartikel gefunden, die der Explosion eines
kosmischen Körpers zugeschrieben werden könnten,
auch wenn wir uns dessen nicht absolut sicher sein
können. Dass er kosmischen Ursprungs war, dafür
haben wir keinen schlüssigen Beweis. Warum wir
"vielleicht" sagen und nicht "sicher"? Alles, was wir sicher
wissen, ist: Diese Partikel sind 1908 ins Harz eingelagert
worden. Aber - kommen sie nun von unten oder von oben? War
es die Explosion eines kosmischen Körpers hoch oben in
der Atmosphäre - oder wurde der Staub bei einer anderen
Explosion vom Boden hochgewirbelt? Wir haben die Partikel im
Harz mit dem Boden verglichen - und wir können nichts
mit Bestimmtheit sagen. Zwar gibt es große
Unterschiede, aber die reichen nicht für eine sichere
Aussage.
Auch Signale aus dem Torf helfen nicht
weiter. Hochmoore an sich sind wunderbare Archive, weil sie
nur von Regen und Wind erreicht werden. Deshalb sind sie
sehr sauber und sammeln nur das, was aus der Atmosphäre
herunterrieselt. Darunter sind auch Mikrokugeln, die bei
großen Vulkanexplosionen entstehen - oder wenn ein
Meteorit in die Erdatmosphäre eintritt. Seine leichten
Elementen verdampfen, das Eisen bleibt zurück, es
schmilzt und bildet dann im Flug winzige Kügelchen. Die
Explosion eines Asteroiden oder Kometen über Tunguska
müsste gewaltige Mengen solcher Mikrokugeln in den
Moosen hinterlassen haben. Lars Frantzen von der
Universität Göteborg:
Ich kann heute
nichts mehr von einem Einschlag erkennen. Aber gleichzeitig
habe ich ein überraschendes Ergebnis beim Alter des
Torfmooses in einem halben Meter Tiefe. Den C14-Datierungen
zufolge ist dieses Moos gerade erst gewachsen, dabei sollte
es etwa 300 bis 400 Jahre alt sein. Warum das so ist: Ich
habe absolut keine Ahnung. Das ist für mich eines der
ungelösten Rätsel.
Ein Spiegeluniversum
aus Spiegelmaterie, Spiegelgalaxien, Spiegelsterne,
Spiegelplaneten, Spiegelasteroiden. In der Spiegelwelt ist
alles seitenverkehrt, bis hin zu den Kräften, die
zwischen den Elementarteilen wirken. Hat Spiegelmaterie die
Bäume von Tunguska entwurzelt? Dann können wir
keine Spuren finden. Denn Materie und Spiegelmaterie
bemerken einander nur über die Anziehungskraft - und
durch eine weitere Besonderheit. Die Elementarteilchen der
Spiegelmaterie haben neben ihrer eigenen elektrischen
Spiegelladung einen winzigen Anteil an normaler Ladung - und
umgekehrt bei der normalen Materie. Das verursacht eine
elektromagnetische Wechselwirkung zwischen Materie und
Spiegelmaterie. Sie ist zwar winzig, könnte aber doch
ausreichen, damit die normalen Atome der Luft den
Spiegelkörper bei seinem Flug durch die Atmosphäre
aufheizen. So stark, dass der Spiegelkörper in
großer Höhe explodiert. Die Schockwelle
entwurzelt auch in der normalen Welt die Bäume. Da sich
Materie und Spiegelmaterie letztendlich gegenseitig stoppen
sich gegenseitig, liegen die Reste des Spiegelkörpers
im Boden von Tunguska begraben - nur, wir merken es
nicht.
Neben fehlenden Beweisen für die
Einschlagstheorie gibt es auch Ungereimtheiten. Etwa die der
optischen Phänomene, die Aufzeichnungen zufolge schon
neun Tage vor dem Ereignis von Tunguska bemerkt worden sind.
Morgen- und Abendrot schienen besonders hell zu sein.
Über Sibirien soll ein feiner Schleier hoch oben in der
Luft gelegen haben, und nachts standen helle Wolken am
Himmel.
Oder die Flugbahn. Zuerst zog der Feuerball sehr
flach nach Nordwesten, dann schwenkte er nach Norden, flog
steil hinab. Ein ungewöhnliches Verhalten für
einen Kometen oder Asteroiden - falls die Beobachtungen
nicht nur auf einer optischen Täuschung beruhen.
Oder die Bäume: Es gibt - je nach Bericht - vier oder
fünf verschiedene Zentren der Explosionswellen, die
alle dicht beieinander liegen. Wenn sich ein
Himmelskörper in großer Höhe zerlegt - wie
entsteht dann dieses komplizierte Muster? Warum bleiben bei
einer Druckwelle, die nur von oben anbrandet, die Bäume
in manchen Tälern unbeschädigt, während auf
den Hügeln alle entwurzelt wurden? Und noch etwas:
Viele Bäume sind verbrannt, aber in den Zentren der
Explosion blieben die Bäume unverbrannt stehen.
Warum?
Nach drei Jahren vergeblicher Suche ist Leonid
Kulik entmutigt. Er hat kein einziges Gramm meteoritischen
Ursprungs gefunden. Er zweifelt am Sinn künftiger
Exkursionen.
Doch der technologische Fortschritt macht
Luftbildaufnahmen möglich. Kulik ergreift die
Gelegenheit und setzt 1938 seine Arbeit fort. Insgesamt
15.000 Aufnahmen des Gebiets lässt er anfertigen, mit
denen er die Zerstörung und Entwurzelung des Waldes
berechnet.
Auf Grundlage seiner neuen Erkenntnisse ruft
Leonid Kulik ein neues Programm ins Leben. Die nächste
Forschungsphase soll bis 1943 dauern. Aber seine Arbeit wird
durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Leonid Kulik
meldet sich - wie unzählige anderer Sowjetbürger -
freiwillig an die Front. Er kehrt nie zurück.
Da die
Zeit viele Spuren längst verwischt hat, greift man
heute gerne auf Kuliks alte Bilder von 1938 zurück.
Computeranalysen zeigen, dass es vier Explosionszentren
gegeben hat - alle dicht beieinander.
Schwarze
Löcher sind unersättlich, ziehen alles in sich
hinein, Sterne, Planeten, kosmischen Staub. Der Lehrmeinung
nach sind Schwarze Löcher gewaltige Gebilde im
Weltraum, die Millionen mal schwerer als unsere Sonne sind.
Aber was wäre, wenn es auch Schwarze Löcher
gäbe von der Größe eines Elementarteilchens
und dem Gewicht eines Gebirges? Was wäre, wenn am
Morgen des 30. Juni 1908 ein solches winziges Schwarzes Loch
Tunguska gestreift hätte?
Schätzungen zufolge
wurden bei der Explosion von Tunguska zweieinhalb Millionen
Tonnen feinen Staubs in die Atmosphäre geschleudert -
so hoch hinauf, dass von Großbritannien bis Irkutsk
die Menschen noch drei Tage nach der Explosion mitten in der
Nacht im Freien die Zeitung lesen konnten. So hell blieb es,
weil extrem hohe Wolken jenseits der Stratosphäre das
Sonnenlicht wie ein Spiegel hinab zur Erde reflektierten.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zieht ein
spektakuläres Ereignis die Aufmerksamkeit der
sowjetischen Astronomen auf sich. Am 12. Februar 1947 geht
ein großer Meteorit in Sibirien nieder. Die Akademie
der Wissenschaften organisiert eine Expedition in das
Gebiet.
Dort sehen die Wissenschaftler Zerstörungen,
die denen gleichen, die Kulik in Tunguska gesehen hat. Vor
ihnen liegen Hunderte von kleinen Kratern, die beim
Einschlag von Fragmenten eines Eisenmeteoriten entstanden
sind, der in der Luft auseinandergeplatzt war.
Die
zentnerschweren Bruchstücke des Meteoriten haben sich
metertief in den weichen Boden hineingebohrt.
Auf diesen
Brocken und im Boden entdecken die Astronomen kleine Kugeln
aus Metall. Die Astronomen erinnern sich, dass auch Kulik
solche Kügelchen in den Bodenprofilen von Tunguska
gefunden hat.
Die Untersuchungen der Bodenproben Kuliks
werden wiederholt - und nun findet man magnetische Partikel
in den Proben.
1958 startet eine neue Expedition, mit dem
Ziel, diese mikroskopisch kleinen Zeugen der Explosion zu
untersuchen. Im Boden werden metallische Kügelchen
entdeckt. Sie enthalten chemischen Elemente, die man sonst
nur in kosmischem Staub findet.
Aber auch die
metallischen Kügelchen erweisen sich als nicht
eindeutig. Denn der Basalt von Tunguska enthält nicht
nur seltene Elemente, sondern auch viel Eisen in Form von
Magnetit. Kein Wunder also, dass die Moskauer Laboratorien
gewaltige Mengen davon aus den Proben herausziehen
konnten.
Viele Autoren beschreiben ihre Resultate
und sagen dann, ah, wir haben mit Sicherheit Partikel
gefunden, die von einem explodierten Kometen stammen. Sie
entscheiden, dass es ein Komet gewesen ist. Sicher, es sind
begründete Hypothesen, aber für mich bleiben es
Hypothesen. Auf diesem Gebiet ist nichts definitiv und
sicher. Wir haben lang und breit darüber diskutiert,
und für uns ist es das Wahrscheinlichste, dass ein
kosmischer Körper explodiert ist, dass es ein Asteroid
wie auch ein Komet gewesen sein könnte.
Die
Kometenhypothese wird seit langem von russischen Astronomen
propagiert. Kometen sind schmutzige Schneebälle. Ein
solcher Schneeball könnte beim Eintritt in die
Atmosphäre verdampfen, was wiederum erklärt, warum
auf der Erde nichts zu finden ist. Amerikanische Astronomen
hingegen bevorzugen den in großer Höhe
explodierten Asteroiden. Ihrer Meinung nach verursacht ein
hoch oben explodierter Komet keine so großen
Schäden. Da ein Asteroid aus Eisen zu massiv ist und
auf die Erde durchgeschlagen wäre, gehen die Amerikaner
von einem Steinbrocken aus. Die Physiker der
Universität Bologna haben eigene Ansichten:
Wir
kennen mehr oder weniger die Endbahn dieses kosmischen
Körpers und die Höhe, in der er explodiert ist -
und wir haben den Eintrittswinkel. Ausgehend davon haben wir
berechnet, woher er gekommen sein könnte. Es gibt zirka
1000 mögliche Orbits für diese Bahn. Wir haben
eine 83-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es ein Asteroid
aus der Zone zwischen Mars und Jupiter gewesen ist und eine
17-prozentige, dass es sich um einen Kometen gehandelt hat.
Aber das ist keine sichere Schlussfolgerung.
Die
Bolognesi bevorzugen einen Asteroiden von der Art Mathildas,
also einen Körper von geringer Dichte, der im Grunde
nicht viel mehr ist als ein durch den Weltraum fliegender
Ziegelhaufen, der gerade noch durch seine eigene Schwerkraft
zusammengehalten wird. Der zerfällt beim geringsten
Widerstand sofort in seine Bausteine - und die verdampfen
dann. Am Boden kommt nur eine gewaltige Druckwelle an.
Im
Jahr 1947 studierte ein Offizier der Roten Armee die
Luftbilder, die Kulik bei seiner Expeditionen im Jahr 1938
gemacht hat. Kasanzeffs war gerade aus Hiroshima
zurückgekehrt, wo er die Folgen der Atombombenexplosion
studiert hatte. Kuliks Aufnahmen faszinierten ihn. Die
Bäume zeigten nicht nur ein Fallmuster, das ihm
charakteristisch erschien, sondern sie waren auch noch
verbrannt. Das alles erinnert ihn an Hiroshima. Nur, eine
Atombombe konnte 1908 nicht explodiert sein. Also war es
etwas anderes: Am 30. Juni 1908, so erklärte er, ist
ein reaktorgetriebenes Raumschiff von der Venus über
Tunguska explodiert.
Ende der 80er Jahre suchten
russische Geologen im Gebiet von Tunguska Lagerstätten
- und sie entwickelten eine neue Hypothese. Ihre
Mosaiksteinchen: Das Explosionsgebiet liegt mitten in einem
uralten Vulkan: Unter seinen Basaltdecken hat sich im Lauf
von Jahrmillionen eine große Erdgaslagerstätte
gebildet. Sie ist direkt unter dem Explosionsgebiet. Durch
den Untergrund ziehen sich zwei große geologische
Bruchzonen. Die eine vom Baikal-See nach Norden bis in den
Polarkreis, die andere verläuft von Ost nach West. Sie
kreuzen sich unter Vanovara. Der Flusslauf folgt der
Störung - und Tunguska liegt genau darüber. Kam
also der Auslöser des Tunguska-Ereignisses nicht aus
dem All, sondern aus dem Inneren der Erde?
Die
Sümpfe von Tunguska hüten ihre Geheimnisse.
In
der Bevölkerung herrscht allerdings der Eindruck, dass
der Meteorit von Tunguska das Resultat einer
Nuklearexplosion an Bord eines Raumschiffs gewesen ist.
Aber die jungen, enthusiastischen Forscher korrigieren diese
Auffassung. Sie fällen Bäume, erkunden die Ringe
und bestimmen die aus dem Jahr 1908. Sie verbrennen dieses
Holz und untersuchen die Asche -es werden keine Spuren von
Radioaktivität nachgewiesen.
Zur gleichen Zeit
untersucht ein andere Gruppe die Sümpfe. Und
Spezialisten kommen zu dem Schluss, dass die Vertiefungen in
den Sümpfen und die Torflagen rein terrestrischen
Ursprungs sind. Sie haben keine Verbindung zum Fall des
Meteoriten.
Eine neue Interpretation: ein "Leck" in einer
großen Erdgaslagerstätte. Vladimir Epifanov vom
Sibirischen Forschungsinstitut für Geologie, Geophysik
und Mineralen in Novosibirsk gehört zu den
"Vätern" dieser Hypothese. Schon Tage vor der Explosion
waren in der Region Beben registriert worden. Sie zeugen
vielleicht davon, dass sich Erdgas über alte
Vulkanschlote nach oben drängt. Das unter gewaltigem
Druck stehende Gas öffnet Spalten, über die es
herausschießt, aus mehreren Öffnungen und mit
Überschallgeschwindigkeit. Der Gasstrom reißt
zertrümmerte Gesteinskörnchen mit, trägt sie
hoch hinauf. In der Stratosphäre bilden sie die
seltsamen, hellen Wolken, die in den Nächten vor
Tunguska beobachtet worden sind. Neun Tage lang strömt
Gas aus, steigt hinauf in die Ionosphäre. Die
Corioliskraft lenkt den Strahl nach Südosten ab. In der
Ionosphäre entsteht im Gasstrom eine elektrische
Entladung. Sie entzündet das Gas. Es brennt - wie
entlang eines Dochts - seine eigene Spur hinunter. Das ist
die flach über den Himmel ziehende Feuerkugel. In
fünf Kilometern Höhe gibt es genügend
Sauerstoff: Aus dem Brand wird eine gewaltige Explosion. Die
schlägt - immer dem Gases folgend - auf den Boden durch
und verschließt mit ihrer Wucht die Öffnung der
Gaslagerstätte wieder.
Am 29. Juni 1990 erbaten sich
japanische Gäste von den russischen Wissenschaftlern,
die sie zum Epizentrum des Ereignisses von Tunguska
geführt hatten, einen besonderen Gefallen. Sie wollten
die Nacht zum 30. Juni dort verbringen, allein. In dieser
Nacht sollte es geschehen, wie schon 1908: Damals waren mit
einem gewaltigen Kugelblitz die Samurai auf die Erde
zurückgekehrt. Am 30. Juni 1990 holten die
Wissenschaftler ihre japanischen Gäste wieder ab - und
sie fanden eine enttäuschte Gruppe. Die Ahnen waren
diesmal nicht gekommen
Die Geologen glauben, dass ihre
Hypothese vom Leck in der Erdgaslagerstätte unter
Tunguska die Ungereimtheiten löst: von der anomalen
Bahn über die optischen Phänomene bis zu den nahe
beieinander liegenden Epizentren. Die Erdgasexplosion selbst
könnte auch die unverbrannten Bäume im Zentrum der
Explosion erklären. Denn sie stehen genau über den
potentiellen Gasaustritten. An der Erdoberfläche
gewinnt das Erdgas urplötzlich an Raum, dekomprimiert,
und dadurch entsteht ein starker Unterdruck, der die
Bäume gefrieren lässt - und das hätte sie vor
den Flammen geschützt.
Wüsste man nicht, dass
etwas passiert ist, mit Blick auf die Messergebnisse
könnte man Tunguska für eine Schimäre
halten:
Es ist ganz klar ein UFO, ein nicht
identifiziertes fliegendes Objekt, darüber besteht
überhaupt kein Zweifel. Was genau ist ein UFO? Ein
nicht identifiziertes, fliegendes Objekt. Die Zeugen
erklären, dass sie ein fliegendes Objekt gesehen haben.
Wir wissen noch nicht so genau, worum es sich gehandelt hat
- also ist es nicht identifiziert.
Die Sümpfe
von Tunguska behalten ihre Geheimnis.